Das Theater der Gegenwart – Strategiemaschine am Weltübergang
Das Theater der Gegenwart
Wir sind mittendrin. Nicht nur als Kulturschaffende, sondern auch als ganze Gesellschaft(en) stehen wir nun da. Mitten in der 2. Welle. Und es ist nicht so, dass wir es nicht gewusst hätten. Dass es keine Warnung gegeben hätte. Es ist nicht mehr so neu wie beim ersten Mal. Nicht so überraschend. Wir ertappen uns dabei, dass die Zahlen uns weniger schockieren als beim letzten Mal. Dass wir schnell müde sind, vermutlich auch noch müde vom letzten Mal, und dass sich Verzicht sinnloser anfühlt als er sollte.
Wieso gibt es keine Orte, an denen wir eben diese Möglichkeiten gemeinsam durchdenken, durchspielen, Daten und deren Erklärung, Korrelationen und Kausalitäten, mögliche Zukünfte, Wahrscheinlichkeiten und Inszenierung dessen, was das eigentlich bedeutet, zusammenbringen können?
Denn wieder sind wir nicht vorbereitet, in beinahe keinem gesellschaftlichen Bereich. Schmerzlich fehlen modulare Lösungsansätze oder systematische Ideen, wie wir auf verschiedene mögliche Entwicklungen reagieren könnten, welche Weichen wir wann stellen müssen, was wir vielleicht vorher überlegen können und nicht erst immer, wenn es so weit ist. Oder zu spät.
Die Theater sind jedenfalls, wenig überraschend, wieder zu. Und bleiben es vielleicht eine Weile. Vorwürfe, Schuldzuweisungen, Selbstmitleid und lobbyistische Nabelschauen oder eine neue Runde der ewigen Diskussion über die wesentlichen Unterschiede zwischen online und offline-Welt bringen gerade nicht wirklich etwas voran.
Strategiemaschine am Weltübergang
“Die Zukunft (…) bekommt niemand geschenkt. Sie will gestaltet sein.” schreibt Esther Slevogt in ihrer Kolumne “Aus dem bürgerlichen Heldenleben” über den Appell von Berliner Theatern, trotz steigender Covid-Zahlen zu spielen.
Zukunft muss nicht in Zukunft gestaltet werden, sondern jetzt. Jetzt wollen wir AGENCY zurückgewinnen, in dieser viel zu schnellen Gegenwart, in der wir gefühlt eigentlich die ganze Zeit ein Bein aus dem Bett stellen müssen, damit die Welt aufhört sich zu drehen.
Warum also “…nicht mal neugierig und geländerlos über ein Zukunftstheater (…) sinnieren, das allen Ungemach der pandemischen Gegenwart in eine neue Art postkapitalistischer Digitalität überführt? Ein Theater, das die Gesellschaft selbst und jedes „politische Subjekt“ darin von Grund auf neu, gerechter, auch menschlicher, weil unsentimentaler vorkommen lässt?” (zitiert aus: Inspirationen der Pandemie für die Zukunft des Theaters von Doris Meierhenrich, 12.11.2020 – 15:58
Ende April 2020 schrieb ich bei Nachtkritik über Peripandemisches und Postpandemisches Theater. Corona und die damit verbundenen Maßnahmen waren eine schwerwiegende und weitreichende Zäsur. Aber die Pandemie ist nicht vorbei. Es macht keinen Sinn, die Welt in prä- und post Corona einzuteilen.
In Zuständen zu denken, macht keinen Sinn.
Es macht auch keinen Sinn EINE neue Strategie zu erfinden. Wir brauchen mehrere. Aufeinander aufbauende. Vernetzte. Pläne B, C, D, E und Kriterien, anhand derer wir sie dann wieder mit der Realität abgleichen.
Wir brauchen eine Strategiemaschine.
(Und damit meine ich nicht eine maschinengelehrte Instanz, die die bestmögliche Zukunft für uns entscheidet. Überhaupt hat sich die Zukunft hat sich in den letzten Jahren ziemlich abgenutzt, oder? Fangen wir doch einfach hier und heute an, soweit wir sehen können und denken müssen. Und gehen dann weiter. Um es mit Alan Kay zu sahen: „Look, the best way to predict the future is to invent it.“)
Denn (echte) Agency ist gegeben, wenn Akteure ihre Situation praktisch evaluieren, d.h. ihre Position in ihrem historischen Kontext und ihrer Umwelt präzise und umfassend analysieren, daraus abgeleitet Absichten und Ziele formulieren und Projektionen für die Zukunft ableiten können. In unserer komplexen Welt ist dies nur bedingt möglich. Aber im Theater (vielleicht auch im Museum, im City-Lab, im Seminar, auf dem Festival etc.) geht das. Weg vom Eskapismus!
Aber wie?
MANIFEST.
1. Das Theater der Gegenwart schaut vom Hier und Jetzt in die Zukunft und produziert Denkvorräte.
In ihrem im Mai 2020 erschienenen Buch “Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit“, schreiben Nikil Mukerji und Adriano Mannio, Experten im Bereich der Risikoethik von der Notwendigkeit, Denkvorräte aufzubauen und zu diversifizieren, um Kurzschlusshandlungen unter Druck in Krisenzeiten, gerade dort, wo viel auf dem Spiel steht, vermeiden zu können.
Auf Vorrat denken- wie soll das gehen? Die dafür vorgestellten etwas polemisch “10 Gebote” genannten Handlungsanweisungen sind ein Plädoyer für die Entwicklung an der Realität orientierter emergenter Praktiken (“Sorge dafür, das Informationen in Echtzeit zur Verfügung stehen”, “Gib der Praxis Vorrang”). Aber auch weiterführende Anweisungen zur Organisation des Denkens Vieler, die Anregung, auch das Denken und das Zusammenspiel vieler vernetzter Expert*innengehirne intelligent und sinnvoll anhand der Wichtigkeit der aktuellen Fragestellungen zu “triagieren”.
Das letzte Gebot hallt nach.
“Versuch, durch kluge Kooperationsformen komparative Vorteile zu nutzen.”
2. Das Theater der Gegenwart denkt, macht und evaluiert in kurzen Zyklen.
Wie wäre das: Theater transformiert sich zu einem Echtzeitlabor an der Schnittstelle zwischen Wissenschaften, Technologie, Philosophie und Stadtgesellschaft.
Es stellt aktiv und gemeinschaftlich Situationen her, um Praktiken zum Umgang mit gesellschaftlicher Transformation und Unsicherheit zu entwickeln und zu testen: Um Raum für tagesaktuelle Diskursformate zu schaffen, die über reines Zuhören und Zuschauen hinausgehen und Theaterschaffende, Expert*innen verschiedener Disziplinen und Besucher*innen in neue Konstellationen involvierenden Austauschs zu bringen. Um neue Formen der gemeinsamen Aushandlung von gegenwärtiger und zukünftige Realität möglich und vor allen Dingen auch sinnlich ERFAHRBAR zu machen. Egal ob das gerade nun im physischen Raum möglich ist oder andere Formen der Vergemeinschaftung online oder in hybriden Formaten gefunden werden müssen.
Theater hat die Ressourcen dafür. Räume. Personal. Know How. Und jetzt: Zeit. Produktionsrhythmen sind verglichen mit anderen Kulturformen (vom Roman zum Computerspiel) kurz und oft auch preisgünstig möglich.
3. Das Theaters der Gegenwart ist Gastgeber*in. Es stellt Situationen her, nicht dar.
Kluge Kooperationen entstehen nicht frontal oder von oben. Wir brauchen echte Partizipation. Das bedeutet vor allen Dingen ernst gemeinte Einbeziehung Externer in allen Phasen der Entstehung eines Werks, also schon in der Vorbereitungsphase. Kollaboration und Co-Kreation sind unter anderem hilfreich, um Expert*innen aus einzubinden und ein gutes Setting für einen Austausch zu schaffen, der tiefer gehen kann als in den üblichen Podiumsformaten. Und wie sollte das besser gehen als beim gemeinsamen kreativen Schaffen, Weltenbauen, Formate entwickeln? Das Theater der Gegenwart schafft dafür die Bedingungen.
4. Das Theater der Gegenwart versteht sich als Hardware, auf der verschiedene Arten sozialer Software laufen können.
Am Theater Strategien “auf die Probe stellen” heißt im wahrsten Sinne des Wortes auch: sie durchspielen. Mögliche Verläufe der Realität durchdenken und performativ oder spielerisch erfahrbar machen.
Je mehr Möglichkeiten das Publikum hat, hier einzugreifen, umso größer ist natürlich auch die selbst empfundene “Agency”, umso lebendiger werden gemachte Erfahrungen. Oft enttäuschen “interaktive Stücke” durch nur limitierte Handlungsmöglichkeiten, meistens im Sinne einer Auswahl aus mehreren Möglichkeiten oder einer festgelegten Route. Oft finden sich nur Pseudo-Interaktions-Möglichkeiten (überhaupt kein Einfluss auf den Ablauf und die Ausgestaltung des Werks wie bei den meisten klassischen Inszenierungen) oder asymmetrische Interaktionen (bei denen höchstens aus vorproduzierten Möglichkeiten gewählt werden kann, ein Abweichen vom eigentlichen Plan der Macher*innen jedoch unmöglich ist, wie z.B. oft bei Audiotouren, beim Game Theater etc.).
Echte Interaktivität erfordert “Einfluss auf Inhalt und Form, auf Ablauf und Dauer einer Kommunikation – und das heißt letztlich: die Möglichkeit zur aktiven De- und Reprogrammierung des »Programms« sowie die offene und autonome Mitgestaltung der Netzwerkarchitektur.” (Quelle)
Für Macher*innen bedeutet es in jedem Fall, Gestaltungshoheit abzugeben. Und Vorsicht. Kulturschaffende unterschätzen oft den Konzeptions- und Moderations-Aufwand, der mit Interaktion und echter Partizipation einhergeht, dabei kann man ihn personell und zeitlich vermutlich gleichsetzen mit der “eigentlichen” künstlerischen und organisatorischen Arbeit. Das Theater der Gegenwart kalkuliert ihn als gleichwertige wichtige Arbeit ein.
Auch die Rolle der Theaterkritiker*innen ist am Theater der Gegenwart eine andere. Einstiegs- und Interpretationshilfe zu geben ist wichtiger, als vernichtend zu kritisieren, elegant zu ignorieren oder Lieblinge der Landschaft zu hofieren. Es geht um die GEMEINSAME Sache. Vielleicht um ein “empathisches, darstellendes, spielendes Betrachten” anzustreben, wie es sich die Kulturjournalistin Astrid Kaminski wünscht? (im Theaterpodcast, Folge 30: Geschmacksurteil oder Kunstverstand? Theaterkritik in Zeiten von Social Media)
5. Das Theater der Gegenwart schafft hybride, radikal interdiziplinär und intersektional gedachte Erfahrungsräume.
Theater wird konsequent hybrid (im physischen Raum und remote zugeschaltet) gedacht. Wir wissen nicht, wie sich die Situation in den nächsten Wochen, Monaten, Jahren entwickelt. Formate und Interaktionsformen werden dementsprechend entwickelt.
Das heißt auch: es gibt nicht DAS Publikum, sondern viele mögliche Publika, die sich in unterschiedlichen Situationen befinden, Medien unterschiedlich nutzen und verschiedene Bedürfnisse, Erwartungen und Motivationen haben. Nicht alle Besucher*innen werden sich alles anschauen- und das ist auch gar nicht nötig, solange die Formate modularer gedacht werden und sich zeitlich in den Alltag integrieren lassen.
Eingesetzte Technologien orientieren sich an dem, was für welches Publikum gebraucht wird. Hier nimmt sich das Theater der Gegenwart Zeit, Alternativen auszuprobieren und die beste auszuwählen oder aber in Neuentwicklung zu gehen. Benutzer*innenfreundlichkeit und user centered design ist die oberste Prämisse. Dabei geht es vor allen Dingen darum, technologische Hürden niedrig zu halten. Inhaltlich darf und soll Theater fordern und überraschen und danach beurteilt werden, ob es die Erwartungen seines Publikums befriedigt, sondern danach, ob es sie zu verändern vermag.
Hybride Räume haben das Potenzial, diskriminierungsfrei genutzt zu werden, wenn sie gut designt und moderiert sind. Das bedeutet Planung im Vorhinein, welche Gruppen man im Sinne der Diversität zur Teilnahme befähigen und explizit einladen möchte, außerdem adäquate Einladungsgestaltung, gutes Onboarding und Care währenddessen sowie ein für alle verständliches Regelwerk zu schaffen, das die Handlungsoptionen aller transparent benennt.
Die Community ist Königin. Hier liegt der stärkste Fokus, nicht unbedingt auf einer besonders “guten Aufführung”, sondern darauf, dass Leute wiederkommen, dass sich Routinen und Rituale entwickeln, dass serielle Formate entstehen, innerhalb derer man zusammen “jammen” kann.
6. Vorleben statt Vorgeben: Der wichtigste Gast im Theater der Gegenwart ist das Team selbst.
Das Theater der Gegenwart schafft gute Bedingungen für Interaktion und Partizipation und nimmt diese auch im Innenverhältnis ernst. Respektvoller Umgang miteinander löst toxische Strukturen ab: Altbekannte Regel(mäßigkeite)n am Theater wie größtenteils männliche Führungspersonen, feste Hierarchien, die immer gleiche tradierte Rollenverteilung samt all ihrer Zuschreibungen, Klassismus, Rassismus, Sexismus, Ungerechtigkeit und Intransparenz werden am Theater der Gegenwart verändert werden.
Die Leitung des Theaters der Gegenwart bedient sich den Prinzipien des Gastgebens und dienender Führung auch intern. Führung besteht bei diesem systemtheoretisch orientierten heterarchischen Führungsmodell vor allem darin, dass nicht nicht einer viele führt, sondern alle füreinander Umwelt sind und für alle maximal gute Bedingungen für die eigene Entwicklung geschaffen werden. Denn das Team ist nur so stark wie seine schwächsten Mitarbeiter*innen.
Das Theater der Gegenwart bietet nicht nur neue Möglichkeiten für diejenigen, die notwendige Technik für digitale Formate programmieren und betreuen. Es geht in Zukunft vor allem auch darum, die Gesamtprozesse zu koordinieren, Projektmanagement zu machen, Herstellungsleitung für Situationen, Care Arbeit fürs Team. Gebraucht werden die, die alle Sprachen verstehen und zwischen verschiedenen Professionen und Bedürfnissen übersetzen können.
Das Theater der Gegenwart arbeitet effizient. Hierarchiefreie Zusammenarbeit heißt nicht, dass alle immer bei allem mitreden und es endlose Plena und wenig Entscheidungen gibt. Es heißt vor allen Dingen Transparenz, und es erfordert realistische Selbsteinschätzung der eigenen Zeit, Leistungsfähigkeit und des eigenen Commitments. Es erfordert regelmäßigen Realitätsabgleich. Je veränderbarer der Arbeitsalltag, umso mehr direkte Kommunikation erfordert dies von Mitarbeitenden. Umso wichtiger sind kurze Kommunikationswege, das direkte Gespräch miteinander, egal ob durch Luft oder Glasfaser. Umso unverzichtbarer wird, dass alle zumindest grob Bescheid wissen, wie das Arbeitsfeld der anderen funktioniert.
7. Das Theater der Gegenwart und jede*r, der/die dazugehört, macht Fehler. Und freut sich darüber, sie zu teilen.
Das Theater der Gegenwart hat keinen Ort, es ist in Bewegung.
Es ist eine Bewegung.
Obdach findet es in den Städten und Häusern, die es einladen, und es verbindet diese Häuser miteinander. Die Strategiemaschine braucht Input und Realitätsabgleich: Das Theater der Gegenwart geht davon aus, dass Wissen wächst, wenn es geteilt wird. Und dass es zusammen auch ganz einfach mehr Spaß macht.
von Christiane Hütter, Oktober/November 2020
Der Text wurde in ähnlicher Form veröffentlicht im Band Netztheater, Positionen, Praxis, Produktionen, herausgegeben von der Henrich Böll-Stiftung und nachtkritik.de, in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net.