weltübergang 2 – Digital Detox
Warum digital entgiften?
Seit dem coronabedingten Shutdown sind digitale Kommunikationsmittel selbst für die unverzichtbar geworden, die sie vorher nur skeptisch beäugt haben und stattdessen “direkte Kontakte” im “real life” bevorzugt haben. Seit Mitte März 2020 fand Arbeit und Freizeit für einen Großteil der Bevölkerung gleichermaßen fast ausschließlich digital statt: Durch ständige Videokonferenzen erhalten Kolleginnen und Kollegen plötzlich Einblicke in private Räumlichkeiten und deren Bewohner*innen, Smartphones, Tablets und Laptops konkurrieren bereits beim ersten Weckerklingeln um Aufmerksamkeit und zerstreuen die Aufmerksamkeit, der Wegfall eines gesonderten Arbeitsplatzes außerhalb der eigenen vier Wände lässt es zur großen Herausforderung werden, ein Ende zu finden und nach einem Arbeitstag abzuschalten und die Arbeit wird einseitig auf das Entschlüsseln und Erzeugen visueller Symbole wie Text, Bildern, Fotos und Videos reduziert. Warum fühlt man sich nach endlosen Zoom-Meetings so ausgelaugt? Sind wir in einer Produktivitätsfalle gelandet? Welche Strategien gibt es, um sich besser zu organisieren und wenn nötig wieder zu erden?
Fragmente aus der Diskussion
Bewusste Zerstreuung und Müßiggang
Durch die permanente Verfügbarkeit digitaler Geräte ist immer für Beschäftigung gesorgt. Das Gefühl der Langenweile oder des Müßiggangs sind kaum mehr vorhanden. Nur wenn man den Blick ziellos für die eigene Umgebung öffnet, ist der Raum für eine unerwartete Begegnung geöffnet. Doch wo sind der Zufall und das Unvorhergesehene in unserem Leben geblieben? Wie können wir wieder Müßiggang lernen?
Die Situationistische Internationale (eine Künstler*innengruppe aus Paris, die zwischen 1952-1973 bestand) entwickelte verschiedene Strategien der “Dérive” oder der physiologischen Stadtplanung, in welchen sie sich ziellos schweifend durch die Stadt begaben und schauten, wo es sie hinführt, wie der öffentliche Raum genutzt wird und wie auf die zufällig eintretenden Begebenheiten reagiert wird.
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Kapitalistischer Produktivitätszwang?
Sowohl das Design der Kommunikationsmedien als auch die Gestaltung vieler Programme ist ideologisch aufgeladen: Digitale Devices, die in einem neoliberalen Wirtschaftssystem entwickelt und vermarktet werden, enthalten die Werte und Glaubenssätze des Kapitalismus immanent in ihrem Design. Welche soziale Regeln wollen wir (stattdessen) etablieren? Wie lernt man, Prioritäten zu setzen? Zuerst die Arbeit oder Familie, Freunde und andere soziale Kontakte? Vielleicht könnte ein Fragebogen zu den eigenen Werten dazu beitragen, den Leuten bewusst zu machen, welche Werte sie eigentlich haben und wo ihre persönlichen Prioritäten sitzen.
Geht es um das (Wieder-)Erlernen einer konsequenten Trennung von Arbeit und Freizeit (wie sie seit der Industrialisierung im 19. Jh. üblich wurde) oder um einen ganzheitlichen Denkansatz, in dem Arbeit und Freizeit so ineinandergreifen, dass sie sich nicht ausschließen?
Buchtipp:
Info:
Große Unternehmen und Softwarehersteller*innen profitieren davon, wenn digitale Geräte dauerhaft im Einsatz sind: Sind Smartphones also extra so konzipiert, dass sie abhängig machen?
FRAGE: Wenn ihr das Handy weglegt, was macht ihr dann?
Die Aufmerksamkeit in die Weite lenken. DINGE ANSCHAUEN und sich darin verlieren, anstelle von Videos auf einem Sceen folgen.
Das Wiederentdecken einer Zersplittertheit der eigenen Person wird möglich. Wahrzunehmen, dass die Aufmerksamkeit in alle Richtungen auseinandergezogen wird und das zu akzeptieren ist schon sehr interessant. Wie geht man mit der Leere um, die dann entsteht?
In der U-Bahn Leute beobachten. Dinge der eigenen Umgebung wahrnehmen, Details des Arbeitsweges etc. Sich ein Spiel daraus machen –> Wie wäre eine App, die Wahrnehmungs-Aufgaben stellt. Und dann durch verschiedene Level führt?
Ich fokussiere mich auf Tätigkeiten wie Singen, Klavierspielen, Gartenarbeit, Kochen, Aufräumen, Fahrrad- oder Bahnfahren – also auf Tätigkeiten, die irgendwie körperlich sind – und lasse dabei meinen Geist frei umherschweifen. Um sich im analogen Raum zu verankern und zur Ruhe zu kommen oder eine Verbundenheit mit der Umgebung zu spüren, ist es aus meiner Sicht unverzichtbar, den Körper aktiv mit einzubeziehen.
Digitale Apps für digitales Detox?
Ein Problem scheint darin zu bestehen, dass man beim Nutzen digitaler Anwendungen jegliches Zeitgefühl verliert und so gebannt ist, dass man die eigenen Bedürfnisse nicht mehr wahrnimmt. Neben Apps, die dabei helfen sollen, sich nicht ablenken zu lassen und disziplinierter sowie am Ende produktiver zu arbeiten (siehe Be Focused, FocusWriter oder 30/30) sind auch Anwendungen entstanden, die spielerisch dazu beitragen sollen, spielerisch zu entgiften:
The Longing – In völliger Einsamkeit, tief unter Erde, ist es deine Aufgabe, auf das Erwachen deines Königs zu warten… und zwar 400 Tage lang.
Lifeline – eine Kommunikation zwischen dir und einem fiktionalen Charakter, die alle bisherigen Grenzen überschreitet. “Das erste Spiel, dass meine tägliche Routine verändert hat und Teil meines realen Lebens wurde.”
Forrest App – wenn du dich auf deine aktuelle Arbeit konzentrieren möchtest, pflanze einen Samen. Dieser Samen wird zu einem großen Baum wachsen. Aber falls du die App verlässt, wird dein Bäumchen sofort verwelken.
Level up life – bietet softe Ausstiegspunkte, um sich mit anderen Sachen zu beschäftigen. Der Katalog an Handlungen und Handlungsalternativen ist sehr schön gemacht und arbeitet auch mit positiver Verstärkung statt mit moralischen Keulen.
Kunstprojekt Learning to Love You More – a series of non-web presentations comprised of work made by the general public in response to assignments given by artists Miranda July and Harrell Fletcher.
Ist es richtig, sich mit digitalen Anwendungen zurück in die physische Welt führen zu lassen? Kann das funktionieren? Wo ist die Grenze zwischen Fremdgesteuert und Inspiriert-Werden? Wie aktiviert man Menschen dazu, Dinge zu tun, die ihnen theoretisch ohnehin jederzeit zur Verfügung stehen?
FRAGE: Was hindert uns eigentlich daran, das Handy zu Hause zu lassen?
Die Angst, etwas zu verpassen.
Nicht erreichbar sein.
Die Sehnsucht nach sozialen Kontakten.
Der Wunsch nach einem Zugang zur sozialen Welt.
Die Angst davor, mit uns selbst allein zu sein.
Ist Langweile der Albtraum unserer Zeit? Horror Vacui…
Die Sucht nach dem Flowgefühl bzw. nach Ablenkung?
Was bringt es uns, wenn man in mehreren Welten gelichzeitig ist? Das Vakuum kann nur durch Präsenz gefüllt werden. Durch meine Entscheidung an einem Ort zu sein.
Mir hat mal jemand gesagt: “Handy ist doch super, mir wird nie wieder langweilig sein”.
Es geht eben auch darum, rauszugehen, Dinge allein und /oder gemeinsam mit anderen zu amchen, Wahrnehmung zu verändern, Dinge zu tun, etc.
Dieses Phänomen findet sich auch auf Twitter & Co.: Ziel ist auch eine Gemeinschaftlichkeit herauszubilden, weil mensch nicht immer weiß, wie man sich allein beschäftigen kann, also kann man das gemeinsam tun.
Ist am Ende alles eine Frage von Selbstdisziplin, Verantwortung und Selbstbewusstsein der eigenen Werte? Müssen wir erst wieder lernen, unsere Umwelt wahrzunehmen?
Zufluchtsort Natur?
Es ist zu beobachten, dass während des Shutdowns immer mehr Menschen den Weg in die Natur suchen, um hier zu entspannen oder sich zu erden. Interessanterweise muss über diesen Vorgang meist auf sozialen Medien Bericht erstattet werden. Das legt den Verdacht nahe, dass wir uns in einer Phase der Neo-Romantik befinden, in der Natur als Gegenbild zur als stressig, überkomplex und überfordernd empfundenen Kultur gedacht wird. Menschen sehnen sich nach Nachhaltigkeit, interessieren sich für den Klimawandel, eine bewusste Ernährung und halten sich gern im Grünen auf. Dabei wird manchmal übersehen, dass diese “Natur” ein kulturell geprägtes Narrativ ist, das zutiefst romantisch aufgeladen ist. Der Dualismus von als negativ gewertert Kultur und als positiv gewerteter Kultur spiegelt sich auch im Begriff Detox, Entgiftung: Ein Zuviel von digitaler Technik muss über Entgiftungsstrategien aus dem Körper geleitet werden, der nun wieder in seinen Naturzustand und damit zur Ruhe kommt.
Andere Dualismen in diesem Zusammenhang sind Oberfläche vs. Tiefe, Zerstreuung vs. Konzentration, unecht vs. echt, Realität vs. Virtualität, Medizin vs. Gift, Entspannung vs. Stress, natürlich vs. künstlich.
=> Ist es hilfreich, die physikalische und die digitale Welt immer in konträren Begriffspaaren zu denken? Insofern es sich hierbei um Glaubenssätze handelt, wird am Ende immer nur der Verzicht auf smarte Geräte als Lösungsansatz entstehen!
Begrenzte Körper in grenzenlosen Raum-Zeit-Strukturen
Die digitale Welt hat im Gegensatz zur physischen keine räumlichen und zeitlichen Grenzen – wenngleich ihre Bedingungen ebenfalls physischer Natur sind: Strom, Arbeitskraft, Serverhallen, technische Geräte usw. Wir werden gefühlt niemals damit fertig, einen digitalen Raum komplett zu erkunden, weil nicht klar ist, wo dieser anfängt und wo er aufhört und weil sich sein Inhalt meist ständig erneuert und vergrößert. Der Mangel an räumlichen und damit automatisch auch zeitlichen Makern führt dazu, dass es uns unterschwellig schwer fällt, uns längere Zeit im digitalen Raum zu orientieren: Wieviele Stunden surft man schon im Internet? Wie spät ist es? Orientierungspunkte wie Uhren oder laufende Timer wenden sich wieder nur an den gleichen Wahrnehmungsapparat, der ohnehin schon gefordert ist, wenn am Rechner oder Smartphone gearbeitet oder gespielt wird. Lichtveränderungen, akustische Signale wie Vogel- oder Verkehrsgeräusche am Fenster oder eine bewusst wahrgenommene körperliche Erschöpfung wie sie die physische Welt bietet, werden ausgeblendet, wenn im digitalen Raum ein Flow entsteht.
Könnte ein anderes Design der Geräte, das z. B. über alternative Steuerungen, die mehr Körpereinsatz erfordern, die anderen menschlichen Sinne besser ansprechen und somit dazu beitragen, dass es gelingt, sich auch besser im digitalen Raum orientieren zu können?
Info:
Katharina Kutsche: Digital Detox. Schluss mit dem Unsinn. In: Süddeutsche Zeitung vom 5.1.2020.