weltübergang 2- Telegram-Formate

Was sich ganz klar beim weltübergang 2 herausgestellt hat, ist, dass hybride Formate zukünftig immer relevanter werden. Bei der Frage, welche Programme dafür genutzt werden können, die möglichst barrierefrei allen Interessierten zugänglich sind beziehungsweise beim nachdenken darüber, welche täglich benutzten Apps sich für eine künstlerische Interaktion eignen könnten, kamen wir schnell auf den Telegram-Messenger, der mit einer Vielzahl an Bedienelementen ausgestattet ist.

Was kann Telegram mehr oder anders als andere Messenger und welche Spielformate lassen sich über Telegram entwickeln, playtesten und umsetzen? Worauf gilt es bei hybriden Spielformaten zu achten? Wie lassen sich Inhalte über Telegram vermitteln? Welche konkrete Dramaturgie braucht es für hybride Formate, die mit einer Chat-App arbeiten und welche Spielmechaniken lassen sich hier etablieren?

Mit diesen Fragen beschäftigte sich die Gruppe P10 Telegram im weltübergang 2 vom 22.-24.5.2020. Nach einem virtuellen Austausch zum Thema wurde ein kleiner Playtest durchgeführt, der sich in erster Linie mit einer möglichen Spielmechanik auseinandersetzte, und erste Erkenntnisse festgehalten.

Funktionen des Telegram-Messengers

Wer etwas über die breitgefächerten Anwendungsmöglichkeiten des Messengers erfahren möchte, dem seien zunächst die am häufigsten gestellten Fragen (FAQ’S – Frequently Asked Questions) auf der Website von Telegram empfohlen: https://telegram.org/faq.

Was Telegram für ein Spielformat u. a. spannend macht sind z. B. die folgenden Aspekte:

  • Telegram ermöglicht es, sich einen selbst gewählten Nutzernamen zuzulegen, der auch während des Spiels geändert werden kann
  • die eigene Telefonnummer wird nicht angezeigt, sodass sie nicht für Fremde zugänglich ist
  • Es gibt eine Vielzahl von individualisierbaren Sicherheitseinstellungen: das Hinzufügen zu Gruppen von Unbekannten kann bspw. unterbunden werden, weiterhin sind alle Nachrichten verschlüsselt
  • Wenn zugelassen, können Personen angezeigt werden, die sich in der Nähe befinden
  • Es gibt einen wählbaren Selbstzerstörungsmodus von Texten und Medieninhalten, die sich entsprechend nach einer selbst gewählten Anzeigedauer auflösen
  • Das Programm bietet grundlegende Textformatierungsoptionen und das Einfügen verschiedener Schriftarten
  • Mehrere Sprachnachrichten hintereinander werden automatisch wie eine Playlist hintereinander abgespielt
  • Es können einfach Umfragen und Quizze erstellt werden
  • Telegram verfügt über eine Vielzahl von Stickern und Gifs, zu denen man problemlos eigene Bilder hinzufügen kann
  • Im Messenger können Bilder bearbeitet werden und bspw. mit Sickern versehen werden
  • Es gibt geheime (Gruppen-)Chats
  • Telegram bietet auch Channels an, in denen die Teilnehmenden selbst nur Lesezugriff haben
  • Mit Telegram kann telefoniert werden
  • Der Messenger läuft solide auch auf älteren Geräten und kann auch parallel auf mehreren Devices gleichzeitig genutzt werden, z. B. mit der Desktop-App auf dem Computer sowie am Smartphone
  • Es gibt mehrere interne Möglichkeiten, den individuellen Standort zu senden

Diskussionsthemen beim weltübergang 2

Nachfolgende Themen wurden im Austauschgespräch aufgegriffen:

Einstieg in das Spiel:

Wie muss ein Tutorial gestaltet sein, um alle Spielenden abzuholen? Die Leute müssen definitiv darauf vorbereitet werden, dass sie die Wohnung verlassen und eine gewisse Zeit draußen verbringen sollen. Im Spielflow kann es vorkommen, dass Leute sich nicht wetterfest anziehen, ihren Schlüssel liegenlassen oder abgelenkt von den Nachrichten auf ihrem Smartphone Probleme mit dem Straßenverkehr bekommen. Darüber hinaus muss im Vorfeld klar gemacht werden, dass der Akku des Smartphones aufgeladen ist und genügend Internetvolumen verfügbar ist, um die Chatnachrichten auch unterwegs mobil zu empfangen.

Eine ortsspezifische Bespielung bietet den Vorteil, Wlan-Spots zu installieren. Generell sollte es einen technischen Support geben, die oder der jederzeit für technische Schwierigkeiten ansprechbar ist.

Interaktionen der Gamemaster: Bot vs. Live-Kommunikation

Automatisch genierte Antworten, die von Telegram auf bestimmte Stichwörter hin gesendet werden, erleichtern den Spielablauf, jedoch zeigten die Spieltests, dass ein großer Reiz gerade darin besteht, auf die Fragen und Kommentare der Gamer*innen einzugehen, was ein Bot nicht leisten kann.

Gruppen-Organisation und -dynamik

Wie die durchgeführten Playtests und der Erfahrungsaustausch mit anderen weltübergänglern zeigte, sind einige Gruppen viel gesprächiger als andere. Manche wollen sofort wissen, wie es weitergeht, welchen Hintergrund eine Figur hat oder sehr stark ins Geschehen eingreifen, während andere das Ganze eher passiv-aktiv verfolgen. Es ist daher sinnvoll bei der Entwicklung an die verschiedenen Spieltypen zu denken, um ein Konzept zu bauen, dass für möglichst Viele funktioniert bzw. sich auf eine klar definierte Zielgruppe zu fokussieren.

Langzeit- vs. Kurzzeitspiele

Beide Formen haben ihre Vor- und Nachteile: Eine Spielzeit von 1-3 Stunden festzulegen, hat den Vorteil, dass die Spielenden dann vermutlich die ganze Zeit mit ihrer Aufmerksamkeit beim Spiel bleiben. Die Zeit, die den Spielenden für das Erledigen bestimmter Spielaufträge bleibt, ist dann jedoch begrenzt und kann zu einem Gefühl von Stress führen. Welchen Weg in der Stadt können die Teilnehmenden in einer Stunde zurücklegen?

Langzeitspiele haben wiederum den Vorteil, dass der Plot des Games sozusagen Teil des Alltags der Spielenden wird. Damit verbunden können ganz andere Aufgaben gestellt werden. Langzeitspiele müssen jedoch sehr gut betreut werden, damit die Teilnehmenden nicht die Lust verlieren.

Dramaturgische Interaktionen in der Narration

Dramaturgisch muss genauso wie bei der Erarbeitung eines analogen Theaterstückes überlegt werden, welche Vorgänge, (digitalen) Requisiten und spielerischen Aufgaben der Erzählung zuträglich sind und welche nur eingesetzt werden, weil sie eben da und cool sind.

Wie in anderen Formaten, die mit Tools arbeiten, die eine Zwei-Weg-Kommunikation ermöglichen, muss sich die Spielleitung bei der Entwicklung jederzeit bewusst sein, dass die User*innen diese Möglichkeit auch nutzen werden. Wird im Game wirklich Platz gelassen für echte Interaktion? Inwiefern haben die Spielenden wirklich Einfluss auf den Fortgang des Geschehens? Wieviel Entscheidungskraft hat die Gruppe und welchen Einfluss kann sie damit tatsächlich nehmen. Als Quintessenz lässt sich sagen, dass diese Art von hybriden Formaten ein Loslassen von Erzählstrukturen bedeutet, die eine komplette Kontrolle über eine Erzählung beanspruchen. Nicht die Spielleitung, nicht ein*e Autor*in und nicht die Regie kontrolliert das Geschehen, sondern der Schwarm. Als Leiter*in heißt das, gewissermaßen loszulassen und zu akzeptieren, wenn die Spielenden andere Wege einschlagen, als vorher erdacht wurde. Es kommt quasi zu einem kollektiven Geschichtenerzählen, für das das Entwicklerteam lediglich den Raum schafft. Durch gezielte Hinweise, die eigene aktive Teilnahme am Spiel und einen dramaturgischen roten Faden bei der Erstellung von Aufgaben lässt sich jedoch eher subtil Einfluss auf den Fortgang der Handlung nehmen.

Weiterhin ist es nötig, möglichst viele Playtests durchzuführen, um die Spielmechanik, aber auch die möglichen Erzählstränge zu erproben, bevor es zu einer “richtigen Aufführung” kommt.

Die Nutzung von weiteren Tools im Spielverlauf

Funktioniert es und ist es sinnvoll, während des Spiels weitere Tools, wie Videochat-Programme zu verwenden? Tatsächlich ist es wenig ratsam, weitere Tools wie Zoom, Jitsi oder Skype zu verwenden, da hier zusätzliche technische Probleme entstehen können: Funktioniert das Video und das Mikrofon zuverlässig? Kennen die Teilnehmenden die verwendeten Tools oder nutzen sie sie zum ersten Mal? Generell ist es immer besser, im Vorfeld genau zu bedenken, welches Tool man einsetzen will und dann konsequent bei diesem zu bleiben. Wenn man Videochats für dramaturgisch unverzichtbar hält, sollte man von vornherein auf ein Tool zugreifen, dass diese Funktion unterstützt.

Ortsspezifisches Game vs. universell einsetzbar?

Ist es besser, Aufgaben zu finden, die überall ausgeführt werden können oder sich auf einen spezifischen Ort einzulassen, an dem eine Art Schnipseljagd vorbereitet werden kann? Eine ortsspezifische Bespielung bietet die Möglichkeit, auch im RL Begegnungen zwischen den Spielenden und Performer*innen zu inszenieren. Weiterhin können Menschen an verschiedene, vielleicht normalerweise wenig frequentierte Orte einer Stadt/eines Ortes geführt werden. Dramaturgisch ist die Entwicklung einer Art Stadtführung mit “alternativer” Narration denkbar: Stammt die bekannte Statue XY in Wahrheit von Außerirdischen? Was hat es mit dem Gebäude soundso auf sich? etc.

Zu bedenken ist immer, dass man die Teilnehmenden in die reale Welt schickt und es dadurch schwierig ist, die Grenzen der fiktiven Spielwelt zu vermitteln/kontrollieren. Der Spielverlauf bleibt damit zu einem gewissen Grade immer von Zufällen bestimmt, auf die man als Spielleitung vorbereitet sein muss bzw. die man zu jeder Zeit erwarten muss.

Auch das Schaffen einer spielerischen Realität, die sich an Eckpunkten der analogen Welt orientiert, die es quasi überall gibt, also an Orten wie Tankstellen, Supermärkten, Kirchen usw., ist reizvoll und würde eine größere Reichweite bedeuten. Hierbei ist es jedoch noch schwieriger, einzuschätzen, wo sich die Teilnehmenden im einzelnen bewegen und welchen Situationen sie hierbei möglicherweise begegnen.

Wieviele Spielende nehmen optimalerweise an einem Game teil?

Es zeigt sich im Gespräch, aber auch in den Playtests, dass die optimale Gruppengröße zwischen drei und sechs Personen pro Chat-Gruppe liegt. Andernfalls wird es zu unübersichtlich im Chatverlauf. Denkbar ist die Bildung von Untergruppen, in die eine große Gruppe eingeteilt wird.

Empfehlungen und Inspiration

“Smoking Gun” is a thriller for a locked-down audience in a world of disinformation. It is played via a free bespoke app for iPhone/Android.

https://www.youtube.com/watch?v=sAzumiMwP7A&feature=emb_title

“Jagd nach Mr X”– der Brettspielklassiker Scottland Yard als Echtweltspiel, mit dem Handy durch den Öffentlichen Raum (2009)

https://www.youtube.com/watch?v=-XLOHL8tuRs

“I’d Hide You” von Blast Theory

https://www.youtube.com/watch?v=CdcvOXPg3j0

“Lockdown”, ein kooperatives Spiel über den alltäglichen Ausnahmezustand – Gespräch mit Clara Ehrenwerth, Autorin und Game-Designerin machina eX

https://www.youtube.com/watch?v=BAWoT9F_lXo

“Burry Me, My Love” – Accolade Trailer

https://www.youtube.com/watch?v=zl9GyQuUltA

“Twin Speaks” – vom Theaterkollektiv vorschlag:hammer

https://vimeo.com/415826064